Ist es aus dramaturgischer Sicht ethisch vertretbar, zwei unterschiedliche Perspektiven in einem unausgewogenen Verhältnis darzustellen?

A: «We beg you, please»
B: «Your position»
A: «In the name of God»
B: «Your position»
A: «Please, we beg you»
B: «Your position … my friend, hello?»

Diese so kontrastreich artikulierten, einschneidenden Worte lassen die Zuschauer*innen ab den ersten Minuten des Filmes bedrückt und mit einem Laster auf der Brust zurück.

Es ist ein Telefongespräch zwischen zwei Männern. Man sieht sie nicht, denn im Bild ist eine schwach beleuchtete Radarstation zu erkennen. Antennen drehen sich in einem regelmässigen Takt, der Himmel ist dunkel und stark bewölkt. Die Stimmen kommen aus dem Off. Person A fleht verzweifelt um Hilfe für 250 Menschen. Person B, kalt und scheinbar ungerührt, fragt wiederholt nach der genauen Position von Person A. Doch diese ist in Panik, versteht die Frage nicht und gibt keine Antwort. Die Verbindung ist schlecht und wird unterbrochen. Weder die Person B noch die Zuschauer*innen erfahren, wo A ist.

Mit diesem Hilferuf eröffnet Regisseur Gianfranco Rosi den Konflikt seines Dokumentarfilms «Fuocoammare». Die Geschichte spielt sich in Lampedusa ab, zwischen dem pittoresken Alltag und den brutalen Existenzkämpfen der Migration. Im Mittelpunkt steht der zwölfjährige Samuele, der seine freien Tage damit verbringt, mit einer selbstgemachten Steinschleuder auf Kakteen und Vögel zu schiessen. Immer wieder wird er von Sorgen und Ängsten geplagt, für welche er eigentlich viel zu jung ist: Samuele ist seekrank, obwohl er wie sein Vater Fischer werden möchte. Später wird er mit einem faulen Auge diagnostiziert und muss es deshalb trainieren. Gegen Ende des Filmes fällt ihm zusätzlich das Atmen schwer.

Nebst Samuele lernen wir den Radiomoderator kennen, der über die wichtigsten Ereignisse informiert und traditionelle, süditalienische Lieder abspielt. Maria, die Grossmutter, kocht und wünscht sich ab und zu Lieder beim Moderator.

Währenddessen überqueren Tausende Menschen das Mittelmeer auf kläglich überfüllten, sauerstoffarmen und sinkenden Booten. Auf offenem Meer werden sie von der italienischen Küstenwache gerettet und in ein Zentrum auf Land übergeben, wo sie Notfalldecken erhalten, abgetastet, fotografiert und mit Nummern registriert werden.

Es sind zwei Parallelwelten, für welche einzig der Arzt Pietro Bartolo eine Brücke bildet. Er behandelt einerseits die Inselbewohner*innen – unter anderem Samuele wegen seinen Atemschwierigkeiten. Andererseits untersucht er die geflüchteten Personen systematisch auf Krankheiten. Er erzählt uns zudem von seinen schlimmsten Erfahrungen und erklärt uns, zu welchen Konditionen die Geflüchteten die Reise auf sich nehmen müssen.

Schwarzes Meer in blauer Nacht

Nachdem das Telefongespräch zwischen A und B unterbrochen wird, führt uns Rosi von der Radarstation raus aufs offene Meer. Es ist immer noch tiefschwarze Nacht und ein blaues Scheinwerferlicht beleuchtet die Wasseroberfläche. Die Detailaufnahme lässt den genauen Aufenthaltsort noch offen.

Erst mit dem nächsten Schnitt erkennen wir, das Oberdeck eines Schiffes. Die Aufnahme wurde aus der gleichen Position gefilmt, denn wieder ist der Scheinwerfer im Mittelpunkt des Bildes. Von der linken oberen Ecke her, trifft er rechts neben dem Schiff ins Meer. Zu hören sind einzig der Schiffsmotor und das Meeresrauschen.

Mit der nächsten Aufnahme sind wir in der Schiffskabine. Es sind mehrere Computer mit Kamerabildern zu sehen. Auf einem Bildschirm kann man einen Helikopter beobachten, dessen Rotoren sich drehen. Durch die Kabinenfenster ist allmählich der Horizont zu erkennen, und wieder das Scheinwerferlicht. Dieses Mal dreht es sich aber im Kreis. Mit den nächsten zwei Schnitten befinden wir uns wieder draussen, zuerst auf dem Schiffsheck, danach auf dem Deck. Es dämmert.

Ortswechsel: Plötzlich sind wir in einem Radiostudio. Ein Mann sitzt an seinem Arbeitsplatz vor dem Mikrofon und arbeitet am Computer. Die Kamera ist rechts hinter dem Moderator platziert, es ist daher schwer, sein Gesicht zu erkennen. Das Lied «E vui durmiti ancora» von Pippo Rallo ist zu hören. Das nächste Bild ist eine Grossaufnahme vom Gesichtsprofil des Moderators. Er singt das Lied mit.

Wieder gibt es einen Ortswechsel und das Bild zeigt eine ältere Frau, die in der Küche eine Mahlzeit vorbereitet. Im Radio läuft die Fortsetzung des Liedes «E vui durmiti ancora». Die Frau schneidet gerade Tomaten am Esstisch, als im Radio die Neuigkeiten berichtet werden:

«And now the news. Happy Sunday to all, here we are again with our daily news segment. Among the bodies recovered yesterday 60 miles off Lampedusa were the bodies of women and children. On the boat that sank there were 250 people, so far, 34 bodies have been recovered, rescuers have pulled 206 people from the sea. »

Die Frau kommentiert, was sie gehört hat für sich im Selbstgespräch: Sie sagt «Poor souls» und kocht dann weiter. Im Radio geht es weiter «To other news: tomorow from 10:00 till 12:30 there will be an interruption in power supply…»

Obwohl wir in der beschriebenen Filmsequenz mit zwei Welten in Berührung kommen, stellt uns Rosi ausschliesslich Charaktere aus der heilen Welt vor: den summenden Radiomoderator und Maria, die kocht. Doch die Welt der Geflüchteten in Not bleibt den Zuschauer*innen fremd – den 250 Menschen wird kein Gesicht, sondern einzig eine anonyme Stimme gegeben. Die Zuschauer*innen erfahren nur durch die Augen der Inselbewohner*innen, was in der Flüchtlingswelt passiert.

Das Ziel dieses Essays ist es, anhand einer hintergründigen Analyse sowie einer argumentativen Interpretation über die Filmsequenz zu reflektieren. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Beantwortung folgender Fragestellung: «Ist es aus dramaturgischer Sicht ethisch vertretbar, zwei unterschiedliche Perspektiven in einem unausgewogenen Verhältnis darzustellen?»

Die Trennung zweier Welten

Lampedusa ist eine winzige italienische Insel im Mittelmeer, die näher bei Tunesien als bei Italien liegt. In den letzten 20 Jahrzehnten seien über 400’000 Migrant*innen auf der 20 km2 grossen Insel gelandet. Es werde geschätzt, dass 15’000 Menschen die Überquerung nicht überlebt haben, heisst es zu Beginn des Filmes.

Gianfranco Rosi habe nach dem tragischen Bootsunglück des 3. Oktobers 2013 eine Bestellung des Istitutio Luce erhalten, um einen Kurzfilm in Lampedusa zu drehen (Boille, 2016). Bei der Tragödie kamen über 300 Menschen ums Leben – die Berichte in den Medien überhäuften sich, ganz Europa war erschüttert. Doch sein Film, so Rosi in einem Interview gegenüber Arte (Mahé & Père, 2016), sollte eine andere Perspektive zeigen: Er erklärt, dass der Auftrag aus einer Notwendigkeit geboren sei: die Notwendigkeit eine andere Sicht der Insel zu zeigen. Denn durch die zahlreichen Artikel über die Geflüchteten sei die Perspektive der Insel und ihren Bewohner*innen untergegangen.

Auch die Europäische Union erkannte nach dem Unglück die Notwendigkeit zu handeln. Am 2. Dezember 2013 trat die Operation EUROSUR in Kraft, welche zum Ziel hat, die Geflüchteten schon bei den äusseren Grenzen des Schengen-Gebiets abzufangen. So sollte das Risiko von weiteren Schiffsbrüchen verringert werden (Europäische Kommission, 2013).

In einem Interview am 54. New York Film Festival (Film Society of Lincoln Center, 2016) erklärt Gianfranco Rosi, was diese neue Regelung für Lampedusa bedeutete: Früher wären die Flüchtlingsboote auf der Insel gelandet, wodurch die Bewohner*innen direkten Kontakt zu den Geflüchteten hatten. Durch die Institutionalisierung und Militarisierung des Migrationsprozesses aber, sei eine Distanz zwischen den beiden Welten entstanden, die sich seitdem nie mehr direkt treffen und nie interagieren.

Lang, ruhig und statisch

In der untersuchten Filmsequenz fällt auf, dass Rosi mit langen Szenen und wenig Schnitten gearbeitet hat. Obwohl lange Einstellungen zu Beginn des Filmzeitalters gewöhnlich waren, bilden sie heutzutage die Ausnahme. Durchschnittlich werde nach circa fünf Sekunden geschnitten, da die Filmemacher*innen befürchten, die Aufmerksamkeit der Zuschauer*innen zu verlieren (MacDougall, 1992-1993, S. 38). In der Sequenz von Rosi, werden jedoch nur zehn Einstellungen während rund vier Minuten gezeigt – das entspricht einer durchschnittlichen Länge von 25 Sekunden pro Einstellung.

Zusätzlich zu den langen Einstellungen, ist die Kameraführung während der ganzen Filmsequenz ungewöhnlich ruhig. Der Regisseur hat sich bei der Kamerabewegung für den Stand entschieden – die in sich keine Bewegung ist, denn die Kamera bleibt während der ganzen Aufnahme statisch und bewegt sich nicht (Bienk, 2008, S. 59). Einzig auf dem Schiff kann ein leichtes Wackeln der Kamera wahrgenommen werden, was wahrscheinlich auf die Wasserbewegungen zurückzuführen ist.

Auffällig ist weiter die fehlende Kommentarstimme aus dem Off, auch Voice-Over genannt, die typischerweise zusätzliche Informationen zur Bildebene liefert (Bienk, 2008, S. 98-99). Rosi verzichtet in der Filmsequenz komplett auf Erklärungen. Die gesprochene Sprache, die wir hören, ist eingepackt in die Handlungen der Charaktere.

Zudem wird in der Filmsequenz die Trennung der Welten durch die Tageszeit verdeutlicht. Wenn es um die Flüchtlings-Welt geht, also während dem Telefongespräch und auf dem offenen Meer, ist es dunkel und mitten in der Nacht. Sobald wir die Bewohner*innen der Insel kennenlernen jedoch, ist es Tag. Bei Maria in der Küche ist dieser Fakt offensichtlich, da durch das Fenster helles Licht erkennbar ist. Beim Radiomoderator kann man durch die Neuigkeiten auf die Tageszeit schliessen. Er wünscht seinen Hörer*innen einen frohen Sonntag.

Die Geister unter uns

Das erklärte Ziel von «Fuocoammare» besteht darin, nicht die Welt der Geflüchteten darzustellen, sondern auf das Leben in Lampedusa Bezug zu nehmen. Zwar werden zwei unterschiedliche Perspektiven unausgewogen dargestellt, das jedoch nur als Ausgleich zur medialen Überhäufung von Migrantengeschichten.

Trotzdem bleibt Rosi’s Film ein dokumentarisches Werk. Die Personen im Film interagieren nur mit Leuten, mit welchen sie im echten Leben auch sprechen würden. Dass die Inselbewohner*innen nicht mit Geflüchteten in Kontakt kommen, entspricht der Realität.

Seit der Verschiebung der Grenze ins Meer, entwickelte sich das Leben auf Lampedusa – Symbol für Migration – zu einer Wiederspiegelung ganz Europas. Es sind zwei Welten, die kollidieren, aber nicht zusammen kommunizieren. Europa behandelt die Geflüchteten viel eher wie Geister, die aus einer unbekannten Welt kommen und wieder verschwinden. Es ist kein Zufall, dass im Film die Welt der Geflüchteten in der Nacht vorgestellt wird.

Verstärkt wird die Darstellung der passiven Haltung Europas durch die beiden Charaktere, welche wir in der Filmsequenz kennenlernen. Maria bestätigt den Erhalt der Information über das gesunkene Schiff und die verletzten Menschen mit einem Kommentar, doch dieses Wissen ändert nichts an ihrer Handlung.

In Europa werden die Leute regelmässig und detailliert über den Verlauf der Migration und über Tragödien unterrichtet, trotzdem würde ein Grossteil der europäischen Bevölkerung den Geflüchteten nicht helfen. Das Französische Institut für öffentliche Meinung (Fourquet & Marchal & Simon, 2015) hat erhoben, dass in Deutschland zwei Drittel der Personen nicht bereit wären, für Geflüchtete zu spenden. 94% der Befragten sagen zudem klar aus, dass es für sie keine Option wäre, Geflüchtete bei ihnen zu Hause aufzunehmen.

Auch das Lied, welches im Radio läuft und vom Moderator mitgesummt wird, ist nicht zufällig gewählt. Übersetzt heisst der Titel «Und ihr schläft immer noch» und richtet sich an die Zuschauer*innen mit der Nachricht, endlich aufzuwachen.

Platz für mehr

Die Menschen, die Macht zur Handlung hätten, nutzen diese also nicht. Sie sind zwar informiert, trotzdem ändert das Wissen nichts an ihrem Verhalten. Genau das ist wohl der Grund, warum Rosi auf weitere Erklärungen und somit auf einen Kommentarsprecher im Off verzichtete.

Sein Ziel ist es, eine Filmsprache zu kreieren, die weniger Informationen gibt, dafür umso mehr Emotionen schafft. «That’s my challenge when I make a film, like a Giacometti statue: thinner, thinner, thinner till it breaks. I want to tell less, less, less information and give somehow more, more space for interpretation», sagt er selbst in einem Interview gegenüber The Guardian (Kingsley, 2016).

Anstatt den Geflüchteten eine Persönlichkeit zu geben, schafft Rosi in seinem Film also Platz für Dinge, die man nicht zeigen muss. Es ist eine Leere, erzeugt von ungewöhnlich langen und stillen Szenen, die Zeit schafft und die Zuschauer*innen dazu zwingt, sich Gedanken zu machen (MacDougall, 1992-1993, S. 38).

Was passiert jetzt? Warum passiert es? Warum hat Person B nicht stärker versucht herauszufinden, wo die 250 Menschen sind? Wie kann eine so fürsorglich wirkende Frau wie Maria derartig emotionslos sein?

Dass die Kameraführung ruhig ist und keine Bewegungen stattfinden, unterstreicht die Ruhe und die Zeit, die im Film für Reflektion gegeben wird. Zudem lässt sie die Zuschauer*innen vergessen, dass sie durch eine Kamera in eine andere Welt sehen. Man fühlt sich so, als sässe man direkt bei Maria am Esstisch und hörte die Nachrichten mit ihr durch das Radio.

Rosi versucht nicht, uns verzweifelt näher an die Geflüchteten zu bringen. Vielmehr öffnet er uns die Augen mit einem Blick auf uns selbst. Dass er dieses Ziel erreicht hat, beweisen die Reaktionen der Inselbewohner*innen von Lampedusa, als ihnen der Film gezeigt wurde: «Many people were so moved by the movie, and they were crying, and they said they didn’t know about all this», sagt Rosi (Kingsley, 2016).

«Hello, my friend?»

In der untersuchten Filmsequenz kommen zwei Welten in Berührung, die vom Regisseur nicht in gleicher Weise vorgestellt werden. Er entschied sich, eine Realität anonym und gesichtslos darzustellen, um währenddessen die Andere ins Licht zu rücken und mit individuellen Charakteren zu schmücken.

Sein Film enthält weder Lügen, noch Verachtung, aber eine künstlerische Entscheidung, die zum Ziel hat, den Zuschauer*innen einen Spiegel vor die Augen zu halten. Falls sich jemand also daran stören sollte, dass die Perspektiven nicht ausgewogen dargestellt werden, so sollte sich diese Person Gedanken über ihre Stellung und ihre eigenen Handlungen machen.

Ganz subtil baut Gianfranco Rosi diese Frage zur Selbstreflexion schon am Anfang des Filmes ein. Ab den ersten Minuten wird jede*r Zuschauer*in wiederholt, klar und deutlich gefragt:

«Sag mir mein Freund, was ist deine Position?»